Schutzkonzepte in der Jugendarbeit
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Notfallplan

Schutzbaum

Der Notfall- oder Interventionsplan ist ein zentrales Element des Schutzkonzeptes. Er enthält Regelungen für das Vorgehen für den Fall der Vermutung, dass ein:e Teilnehmer:in sexualisierter Gewalt ausgesetzt ist oder war. In dem Plan sollten die Erfordernisse unterschiedlicher Fallkonstellationen berücksichtigt werden:

  • Sexualisierte Gewalt durch Person(en) außerhalb der Jugendarbeit (z. B. in der Familie),
  • durch andere Kinder oder Jugendliche (Peers),
  • durch haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter:innen bzw. sonstige Erwachsene (z.B. Busfahrer:in, Reitlehrer:in…) in der Jugendarbeit.
Warum?
Warum ist ein Notfall-/Interventionsplan wichtig?

Der Notfallplan soll eine transparente Verfahrensregelung für alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen der Organisation enthalten. Er soll sowohl die Gefahr von Übergriffen reduzieren als auch Verantwortlichen und Mitarbeiter:innen Sicherheit im Umgang mit (Vermutungs-)Fällen sexualisierter Gewalt vermitteln.

Der Notfallplan soll fachliches Handeln gewährleisten und gibt Leitung und Mitarbeiter:innen Orientierung und Handlungssicherheit, damit sexualisierte Gewalt möglichst frühzeitig gestoppt werden kann. Zu wissen, was im Fall eines Falles zu tun ist, erleichtert die Bereitschaft, genau hinzusehen, Anhaltspunkte für Gewalterfahrungen zu erkennen und ihnen nachzugehen. Ziel ist es, Schutz für betroffene Kinder und Jugendliche herzustellen, und zwar bereits bei sexuellen Übergriffen und nicht erst bei strafrechtlich relevanten Gewalttaten.

In jeder Organisation der Jugendarbeit sollte es einen Notfallplan geben. Denn überall, wo Kinder und Jugendliche betreut werden, gibt es auch Betroffene von sexualisierter Gewalt. Es kann sein, dass Gewalthandlungen durch Familienangehörige oder andere Menschen aus dem privaten oder digitalen Umfeld verübt werden. Bislang bleiben diese Fälle meist unerkannt. Ein Notfallplan ist aber auch deshalb wichtig, weil sexualisierte Gewalt auch vor der Jugendarbeit nicht Halt macht. Teilnehmende können auch hier sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein, verübt durch andere Jugendliche, wobei sexualisiertes Cybermobbing und andere Formen digitaler Belästigung eine zunehmende Rolle spielen. Aktuelle Studienergebnisse zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, durch Gleichaltrige sexuelle Übergriffe zu erfahren, sogar deutlich höher ist als durch Erwachsene.

Sexualisierte Gewalt kann aber auch innerhalb der Jugendarbeit von Mitarbeiter:innen oder anderen Erwachsenen verübt werden. In solchen Fällen sind Entsetzen und Verunsicherung meist besonders groß. Trotzdem gilt es, entschlossen und zugleich besonnen vorzugehen und sich an fachlichen Vorgaben zu orientieren.

Was?
Was sollte in einem Notfall-/Interventionsplan beschrieben sein?

Im Notfallplan sollten die Erfordernisse der drei unterschiedlichen Fallkonstellationen (sexualisierte Gewalt außerhalb der Jugendarbeit, innerhalb der Jugendarbeit durch Peers oder durch Mitarbeiter:innen) berücksichtigt werden.

Die Fallkonstellationen sind teilweise mit unterschiedlichen Handlungsanforderungen verbunden. Ggf. empfiehlt es sich, drei unterschiedliche Pläne zu erarbeiten.

Wichtig ist in jedem Fall, mit der Haltung „Im Zweifel für den Kinderschutz“ an die Intervention zu gehen. Da es sich nicht um strafrechtliche Ermittlungen handelt, ist die sogenannte „Unschuldsvermutung“ hier nicht handlungsleitend, sondern der Schutz von Kindern und Jugendlichen steht an erster Stelle. Deshalb kann mit dem Eingreifen nicht gewartet werden, bis einer konkreten Person ihre Schuld zweifelsfrei nachgewiesen wurde.  In den meisten Fällen gibt es keine 100%ige Sicherheit darüber, ob die Taten tatsächlich verübt worden sind bzw. was genau geschehen ist.

Jeder Fall hat seine eigene Dynamik und seine eigenen Bedingungen. Es gibt keine „Patentlösungen“ und daher ist es nicht möglich, eine für alle Situationen passende Standard-Vorgehensweise festzulegen, nach der im Falle der Vermutung sexualisierter Gewalt immer gehandelt werden kann. Ein Notfallplan kann also keine starre Handlungsanweisung darüber enthalten, welche Maßnahmen wann von wem umgesetzt werden müssen. Intervention ist ein zirkulärer Prozess, bei dem immer wieder Informationen zusammengetragen, Situationen (erneut) eingeschätzt und Entscheidungen für den nächsten Schritt getroffen werden müssen. Es gibt aber einige zentrale Leitlinien und Orientierungspunkte, um diesen Prozess zu steuern.

Generelle Standards sind:

  • Orientierung schaffen: Wie schwerwiegend ist die Tat? Wie klar ist die Vermutung/der Verdacht?
  • Interne und externe Fach- und Beratungsstellen einbeziehen. Die Hinzuziehung einer externen Fachberatung ist immer zu empfehlen. Bei der Vermutung von sexualisierter Gewalt durch eine:n Mitarbeiter:in sollte die Hinzuziehung einer externen fachkompetenten Beratung Pflicht sein.
  • Dokumentieren, sorgfältig mit Informationen umgehen, Datenschutz beachten.


Zentrale Aspekte, die bei der Erarbeitung eines Notfallplan berücksichtigt werden sollten:

  • Sofortmaßnahmen, Schutz von Betroffenen
  • Information der Leitungsebene
  • Einberufen und Aufgaben des Krisenteams
  • Klärendes Erstgespräch mit beschuldigtem:r Mitarbeiter:in
  • Information des Teams/anderer Mitarbeiter:innen:
  • Information weiterer Beteiligter (Eltern, andere Teilnehmer:innen)
  • Ggf. Information sonstiger relevanter Personen oder Gruppen (z.B. andere Eltern)
  • Öffentlichkeit/Medien
  • Nachsorge/Aufarbeitung
  • Bearbeitung nicht-aufklärbarer Fälle: Was tun, wenn Gerüchte oder vage Vermutungen im Raum stehen?
  • Rehabilitation/Umgang mit falschem Verdacht
Wer?
Bei der Entwicklung eines Notfall-/Interventionsplanes sollte die Unterstützung einer spezialisierten Fachberatungsstelle in Anspruch genommen werden. Außerdem muss auf jeden Fall die Leitung beteiligt sein, denn sie trägt die Verantwortung für Intervention.

Ebenfalls sollten Vertrauenspersonen oder andere interne Ansprechpersonen gegen sexualisierte Gewalt sowie Mitarbeiter:innen, die direkt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, einbezogen werden. Zumindest punktuell sollten auch der Personalrat und die für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Mitarbeiter:innen sowie ggf. Rechtsreferent:innen hinzugezogen werden. Nach Fertigstellung müssen alle Mitarbeiter:innen der Organisation über den Notfallplan und die für sie relevanten Handlungsschritte informiert werden.

Wie?
Jede Organisation sollte einen eigenen Notfall-/Interventionsplan (bzw. -pläne) erarbeiten, der auf die jeweiligen Gegebenheiten angepasst ist.

Es ist wenig sinnvoll, einfach einen Plan zu übernehmen, den andere entwickelt haben, auch wenn er übertragbar erscheint. Natürlich kann man sich Anregungen von anderen holen. Wenn ein Handlungsplan aber auch in der Praxis funktionieren soll, muss er passgenau für die jeweiligen Gegebenheiten in der Organisation sein. Dies erfordert i.d.R. einen längerfristigen Erarbeitungsprozess. Die damit verbundene Reflexion und gedankliche Auseinandersetzung mit möglichen Situationen, Anforderungen, Schritten und Komplikationen im „Fall des Falles“ bewirkt einen wertvollen Lernprozess.

Für die Praxis:

Erarbeitung eines Notfallplans
Hilfreiche Hinweise und Anregungen zur Erarbeitung gibt es in einigen Arbeitshilfen und Handreichungen.
Beispiele:

Prätect-Arbeitshilfe „Handeln bei Verdacht auf sexuelle Gewalt in der Jugendarbeit.“ Die Arbeitshilfe umfasst fünf Fachaufsätze, die von verschiedenen Expert:innen erstellt wurden. Jeder Beitrag behandelt einen thematischen Schwerpunkt zum Handeln bei bzw. nach Vorfällen sexueller Gewalt in der Jugendarbeit: Krisenmanagement, Rechtsfragen, Öffentlichkeitsarbeit, Schutzauftrag, Aufarbeitung.

"Handlungspläne", Beitrag von Maren Kolshorn in: Eberhardt, Bernd/Naasner, Anne (Hrsg.): Schutz vor sexualisierter Gewalt in Einrichtungen für Mädchen und Jungen mit Beeinträchtigungen, S. 201 - 211. Der Beitrag gibt praxisnahe Hilfen zu wesentlichen Überlegungen, Verantwortlichkeiten und Vorgehensweisen bei der Entwicklung von Handlungsplänen zur Intervention.

Arbeitshilfe Mädchen und Jungen vor sexueller Gewalt in Institutionen schützen. Handlungsempfehlungen zur Prävention von sexuellem Missbrauch in Institutionen der Jugendhilfe, Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen, Schulen und Kindertagesbetreuungseinrichtungen. (Hrsg.: Der Paritätische Berlin.) Die Arbeitshilfe enthält hilfreiche Hinweise zur Erarbeitung eines Interventionsplans bei sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter:innen.

Interventionsleitfaden BDKJ Mainz: Kinder schützen – eingreifen und Handeln. Eine Hilfestellung zu gelungener Intervention für Veranstaltungs- und Gruppenleitungen bzw. Trägerverantwortliche von Jugendfreizeiten, Fahrten und Lagern im Zuständigkeitsbereich des Bistums Mainz.

Factsheet "Do´s and Don´ts" bei Missbrauchsdarstellungen im Netz: Was kann ich tun, wenn ich im Internet auf Missbrauchsdarstellungen stoße? An wen kann ich mich wenden? Und können die Inhalte gelöscht werden? Antworten darauf gibt das Safer Internet Centre bzw. die Internet-Beschwerdestelle in diesem Factsheet.

Poster "Vorgehen bei einem (Verdachts-)Fall": Darstellung wesentlicher Schritte jeweils mit kurzen Erklärungen. Herausgegeben vom Projekt "Schutzkonzepte im Ehrenamt" der Uniklinik Ulm und weiterer Partner. Das Poster steht als kostenloser Download zur Verfügung, auch Bestellung als Druckexemplar ist möglich.

Zwei Präsentationen von Zartbitter e.V. zum Thema Intervention: Eine Präsentation zu Übergriffen durch Jugendliche in Institutionen und eine zu "klassischen" Fehlern im Umgang mit der Vermutung sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter:innen.

Kooperation mit Fachberatungsstellen
Die Unterstützung durch externe Fachleute ist im Verdachtsfall sowie bei der Entwicklung eines Schutzkonzepts unentbehrlich. Insbesondere für ehrenamtlich geprägte Organisationen (der Jugendarbeit) ist die kompetente Unterstützung durch spezialisierte Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt überaus wertvoll.

Die meisten Fachberatungsstellen bieten die folgenden Leistungen an:

  • Beratung und Begleitung von Betroffenen sexualisierter Gewalt und ggf. von Angehörigen. Die Betroffenenberatung ist kostenlos, sie kann i.d.R. auch anonym erfolgen. In den meisten Fällen sind Beratungen auch telefonisch möglich, teilweise auch Online-Beratung. Die Bedürfnisse der Betroffenen stehen im Mittelpunkt.
  • Schulung und Fortbildung für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen (Jugendleiter:innen, Vertrauenspersonen etc.). Nach Absprache mit dem:der Referent:in (Zielgruppe, Vorwissen, inhaltliche Schwerpunkte, Dauer etc.) i.d.R. gegen Honorar.
  • Unterstützung und Begleitung bei der Erarbeitung von Schutzkonzepten wird von vielen Fachberatungsstellen angeboten. Nach entsprechender Absprache i.d.R. gegen Honorar.
  • Beratung von betroffenen Einrichtungen und Organisationen der Jugendarbeit, Unterstützung in der Bearbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt, Nachsorge, Aufarbeitung. Nach entsprechender Absprache i.d.R. gegen Honorar.
Beispiele:

Prätect-Expert:innen sind Fachleute zur Prävention sexualisierter Gewalt. Sie sind Mitarbeiter:innen aus Fach- und Beratungsstellen in Bayern und verfügen über umfangreiches Wissen und praktische Erfahrung zum Themengebiet. Für Schulungen und Fortbildungen können sie als Referent:innen angefragt werden, außerdem bieten sie weitere Unterstützung (z.B. Entwicklung von Schutzkonzepten, Nachsorge von Fällen etc.) für die Jugendarbeit in Bayern an. Die Fachberatung Prätect ist gerne bei der Suche nach einem:r geeigneten Expert:in behilflich.

Fachberatungsstellen in Bayern, die mit Prätect kooperieren

Datenbank Hilfeportal der UBSKM: Bundesweit Adressen von spezialisierten Fachberatungsstellen finden

Dokumentation
Schriftliche Dokumentation von Anfang an ist im Falle der Vermutung von sexualisierter Gewalt unbedingt empfohlen.

Zeitnah sollten alle Sachinformationen (d.h. eigene Wahrnehmungen ebenso wie Beobachtungen und Äußerungen von Kindern/Jugendlichen) möglichst exakt aufgeschrieben werden. Auch Umfeld und Situation des Gesprächs sollten dokumentiert werden. Bei neuen Entwicklungen, weiteren Schritten, neuen Informationen etc. wird die schriftliche Dokumentation fortgesetzt. Entsprechende Vorlagen und Checklisten können dabei helfen.

Beispiele:

BJR – Info Dokumentation von Vermutungen: Info und Leitfragen zum Erstellen einer Dokumentation.

Fragebogen für Einrichtungen bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch zur
 Wahrnehmung und zur Lebenssituation des Kindes. In der Broschüre „Vorgehen bei Verdacht auf sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ der berufsgruppe gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen Würzburg, S. 64 ff.